Mein Metronom

MEIN METRONOM

Ein aus dem Takt geratener Versuch, meiner Erkrankung einen anderen Namen zu geben

Meine Erkrankung ist mein Metronom, ein unbarmherziger Taktgeber. Ich habe Metronomen nie gemocht, das erbarmungslose gleichmäßige Klickgeräusch, das unausweichlich zu Übelkeit führt, einem Sträuben all meiner Nerven in den Eingeweiden. Ein Sträuben, ein Zusammenziehen, ein sich Wegducken. Bleiben Sie mir vom Hals, vom Solarplexus, vom Magen damit!

Ich bin eher der Typ für Blues Notes, für Rhythmusbrüche, für plötzliche Änderungen des Erwartbaren, nachdem es dann anders weitergeht.

Mit meiner Erkrankung geht es am nächsten Tag nicht anders weiter, obwohl sie sich jeden Tag etwas anderes ausdenkt. Sie fragen sich jetzt sicher, von was zum Teufel ich denn rede. Ich möchte diese gesundheitliche Dauerunpässlichkeit ehrlich gesagt nicht bei dem Namen nennen, den ihr die Medizin gegeben hat. Me/CFS, ich bitte Sie, das klingt doch wie eine Buchhaltungssoftware auf grauem Grund, bei der man durch einen nicht beseitigbaren Virus immer im Debitorensoll ist.

Das Bild ist übrigens nicht falsch, denn es kommt tatsächlich zu wenig Welt in einen herein, die die Kraftkonten auffüllt. Da gibt es schon nach einem nicht erholsamen Schlaf, wenn er denn überhaupt stattgefunden hat, zu wenig was sich innerhalb kürzester Zeit bis zu einem „Rien ne va plus“ verbraucht. Nichts geht mehr und das sehr schnell, wenn „Fast nichts“ der Startblock in den Tag ist.

Trotz dieser Ähnlichkeit: man möchte so wenig eine Buchhaltungssoftware mit sich rumschleppen wie einen Zustand, der einen tagtäglich begleitet, nach ihr benennen. Da bitte ich Sie um Verständnis!

Ich könnte meine Erkrankung der Einfachheit halber Fatigue nennen, das klingt wie ein elegantes Dahinsinken in einem französischen Boudoir, wo man mit einem eleganten Negligé und einem matten Seufzen bekleidet in seidene Kissen sinkt.

Das Wort umgibt ein Hauch von Dolce fair niente, vom Genuss des süßen Nichtstuns. Brigitte Bardot und Gunter Sachs an der Cote d'Azur, schlendern, selbstvergessen Liebe machen, Wein trinken und der Sonne beim Glitzern auf dem blauen Meer zuschauen.

Nichts davon können die, die schwerer von der schadhaften Buchhaltungssoftware betroffen sind. Viele können sich nicht mehr aus ihrem Betten erheben, was zum Schlendern eine unbedingte Voraussetzung ist. Der leidenschaftliche Sex wird durch die Einsamkeit abgedunkelter Zimmer ersetzt. Wein setzt bei dem oft zusätzlich vorhandenen Mastzellenaktivierungssyndrom (ja, so etwas gibt es) einen solchen Sturm von Histamin frei, dass man nicht das kleinste Schlückchen probieren möchte. Und das wunderbare Sonnenglitzern auf der See kann durch die Lichtempfindlichkeit der Augen zu einem unerträglichen Angriff auf die Sinne werden.

Statt der mit dem Wort Fatigue mitschwingenden leisen Mattheit ist ja oft im Inneren ein so unerträglich lautes Vibrieren aller Sinneseindrücke. Das daraus entstehende Komplettausschalten des Verarbeitungssystems hat mit Müdigkeit im klassischen Sinn kaum etwas gemein. Fatigue ist also ein schöneres Wort aber kein treffenderes. Auch wenn Sie es vielleicht lieber hören würden: Erwarten Sie nicht, dass ich es verwende!

Diese Erkrankung zwingt mich dazu, etwas mir Wesensfremdes zu entwickeln. Sie zwingt mich dazu mehr Annegret statt Judith zu sein. Annegret Akkurat, so haben eine Freundin und ich den Selbstaspekt genannt, der akkurate und akribische Pläne macht, um nicht in den Wogen der Unplanbarkeit zu versinken, die die Symptomflut der Schadsoftware so mit sich bringt.

Ich hasse es, mich so zu sehen, mich so zu fühlen, mich so zu verhalten. Ich hasse es, mich wie ein Programmierbares zu betrachten oder mein Leben vom metallischen Klicken eines Metronoms bestimmen zu lassen. Ich hasse es, meine Spontaneität, meine Freiheit, meine Lebendigkeit zu verlieren. Ich hasse es, meine Erkrankung mein Metronom zu nennen.

Denn sie ist nicht mein Metronom. Sie ist eher eine ständige Blues Note, eine ständige Abweichung vom erwarteten Ton, die mich herausfordert, mich neu zu gestalten. Eine Blues Note, die mir zeigt, dass das Leben nicht immer binär und logisch ist, sondern oft analog und paradox. Eine Blues Note, die mich ständig herausfordert, meine Kreativität zu entfalten, meine Grenzen zu erkennen und zu erweitern, meine Perspektive zu verändern.

Ich will nicht leugnen, dass sie mir oft Schmerzen und Leid zufügt. Ich will nicht behaupten, dass ich sie gerne habe oder dass ich dankbar bin für ihre Existenz. Aber ich will auch nicht zulassen, dass sie mich definiert oder einschränkt. Ich will nicht nur ihr Opfer sein oder ihre Sklavin. Ich will ihre Gefährtin sein, ihre Mitspielerin, ihre Herausforderin. Ich will mit ihr tanzen, mit ihr streiten, mit ihr lachen. Ich will aus ihr lernen, mit ihr wachsen, mit ihr leben.

Vielleicht ist das naiv oder vermessen. Vielleicht ist das nur eine Art von Selbstschutz oder Selbstbetrug. Aber vielleicht ist das auch eine Art von Kunst oder Liebe. Vielleicht ist das eine Art von Leben.

Ich nenne meine Erkrankung Blues Note.

Ich lasse sie die Vorhersehbarkeit meiner Partituren unterbrechen.

Hören Sie? Hören Sie genau hin!

Ich bin keine, die sich einem unbarmherzigen fremden Takt unterwirft.

Ich bin eine Spielerin, die antwortet.

von

Judith de Gavarelli

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